Chris Kühn (B90/Grüne): „Ghettobildung ist ein besonders schräges Gegenargument“

11. November 2020


Vor 30 Jahren hat der Deutsche Bundestag das Wohnungsgemeinnützigkeitsgesetz abgeschafft. Die Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen will dieses Fördersystem für den sozialen Wohnungsbau gern in neuer Form wiederbeleben. Die AIZ sprach mit Chris Kühn, dem Sprecher für Bau- und Wohnungspolitik der Grünen-Fraktion.

Interview von Heiko Senebald

AIZ: Sie setzen sich für ein neues Wohngemeinnützigkeitsgesetz ein. Aus welchen Gründen?

Chris Kühn: Weil die Abschaffung einer der größten wohnungspolitischen Fehler der Nachkriegszeit war und behoben werden muss.

Das Fördersystem ist ja aus guten Gründen abgeschafft worden. Was soll jetzt besser werden, was damals nicht funktioniert hat?

Die guten Gründe, wie Sie sie nennen, war die Neue Heimat (eine zunächst gemeinnützige, gewerkschaftseigene Wohnungsgesellschaft, die nach Enthüllungen von Missmanagement und Selbstbereicherung zerbrach, Anmerkung der Redaktion). Was damals passiert ist, war auch schon damals illegal und anstatt die Gemeinnützigkeit in Gänze abzuschaffen, hätte man sie reformieren und Konsequenzen ziehen müssen, um die Selbstbedienungsmentalität von damals zu beenden. Wozu die Regierung damals keine Lust hatte, haben wir in unserem Entwurf der Gemeinnützigkeit mit eingebracht: beispielsweise eine Begrenzung der Unternehmensgröße, Mietermitbestimmung und auch mehr Transparenz.

Es gab zu Ihrem Gesetzentwurf und dem Antrag der Linken eine Expertenanhörung im Bundestagsausschuss für Bau, Wohnen, Stadtentwicklung und Kommunen. Wie schätzen Sie die Expertenmeinungen ein, die sich gegen dieses Vorhaben geäußert haben?

Konstruktive Kritik ist immer überaus wertvoll und auch angebracht. Wenn man Veränderungen aber aus ideologischen Gründen oder Eigeninteresse zum Nachteil von vielen ablehnt, habe ich dafür kein Verständnis. Das vermeintliche Gegenargument der Ghettobildung empfinde ich dabei als besonders schräg in der Debatte. Denn gerade Wohnungsmärkte, die weitgehend liberalisiert sind, wie in England oder den USA, kennen besonders viele segregierte Quartierte, wohingegen Länder mit Systemen der Gemeinnützigkeit eher durch eine soziale Mischung auffallen.

Einige Experten aus der Immobilienwirtschaft sagen, dass die Förderung nicht zielgenau ist. Sie fragen: Was passiert beispielsweise, wenn das Einkommen der Mieter steigt und die Grenze überschreitet? Der Wohnberechtigungsschein ist ja nur für den Abschluss des Mietvertrags maßgeblich. Es gibt keine Fehlbelegungsabgabe oder ähnliches.

Es ist schon bemerkenswert. Entweder wird uns vorgeworfen, zu zielgenau zu sein und eine Ghettoisierung zu fördern, und für andere sind wir hingegen nicht zielgenau genug. Wir sehen die Möglichkeit, eine Fehlbelegungsabgabe für neue gemeinnützige Wohnungen einzuführen, wenn die Einkommen der Bewohner deutlich gestiegen sind, ausdrücklich vor. Für uns ist sozialer Aufstieg in einer gemeinnützigen Wohnung durchaus erwünscht. Unser Vorbild ist Wien mit seinen sozial gemischten Stadtvierteln. Eine der lebenswertesten Städte der Welt. Auch weil die Menschen dort sicher und gut wohnen können. Wir müssen der Tatsache ins Auge blicken, dass der aktuelle Wohnungsmarkt und auch die Wohnungspolitik der Bundesregierung nicht darauf ausgelegt sind, bezahlbare Wohnungen zu schaffen oder zu sichern. Das zwingt uns quasi zum Handeln.

Fakt ist, dass Menschen vielerorts bis weit in die Mittelschicht hinein keine geeignete Wohnung finden. Wir wollen mit unserer Gemeinnützigkeit wieder dafür sorgen, dass auch Städte in Deutschland in Punkto Lebensqualität ähnlich gut abschneiden wie Wien und dafür neue, bezahlbare Wohnungen schaffen und sichern. In Quartieren,wo sie heute fehlen. In Vierteln, wo sich sonst nur noch Haushalte aus der oberen Mittelschicht eine Wohnung mieten oder kaufen können. Was soll daran nicht zielgenau sein?

Was ist mit der Kritik, dass der Flächenverbrauch durch die Mieter nicht begrenzt wird? Die Mieter bleiben natürlich gern in ihren günstigeren Wohnungen, auch wenn sie keine so große Wohnung mehr benötigen. Wie kann man dem entgegnen?

Diese Regelungen obliegen nach unserem Vorschlag sinnvollerweise den Ländern. Dort sind im sozialen Wohnungsbau die Wohnflächen in aller Regel schon heute begrenzt, ganz im Gegensatz zum privaten Wohnungsbau. Es ist schlicht statistisch bewiesen, dass Menschen mit hohen Einkommen die großen Wohnungen bewohnen. Fakt ist auch, dass es nicht Familien sind, die in einem 85 Quadratmeter großen Loft alleine wohnen, sondern gerade sie zu wenige Zimmer und damit auch keinen Rückzugsort mehr haben.

Warum soll man ihnen nicht die Chance auf eine größere, der Zahl der Familienmitglieder angemessenen Wohnung geben? Ich werde niemandem vorschreiben, wie man zu wohnen hat. Das Problem kann nur mit mehr günstigen und bezahlbaren Wohnungen gelöst werden und das bietet der momentane Wohnungsmarkt viel zu wenig an. Daher müssen wir neue Wege gehen und für uns bedeutet dies die Gemeinnützigkeit.

IVD Research hat auf Basis von Daten aus dem ersten Halbjahr einen Trend für den bundesweiten Wohnungsmarkt ausgemacht. Der Mietwohnungsmarkt ist demnach auf einem Beruhigungskurs, die Mietpreisdynamik liegt nur wenig über der allgemeinen Teuerungsrate. Es wurde der niedrigste Mietpreisanstieg der vergangenen zehn Jahre festgestellt. Worauf führen Sie diesen Trend zurück, der sich jetzt schon seit zwei, drei Jahren auf dem Wohnungsmarkt abzeichnet?

Es gibt keinen bundesweiten Wohnungsmarkt, sondern bundesweit Wohnungsmärkte. Die Polarisierung zwischen Stadt und Land ist weiterhin groß, daher ist ein Durchschnitt kaum zu bewerten. Die Mieten sind trotz Corona und Kurzarbeit in vielen Regionen weiter gestiegen. Das muss man sich mal vorstellen, da bricht für Millionen Menschen ein großer Teil ihres Gehaltes weg und die Mieten steigen trotzdem. Ich sehe da keinen Grund zur Freude oder zur Annahme, dass sich auf dem Wohnungsmarkt etwas beruhigen würde.

Die Politik beschäftigt sich praktisch mit nichts anderem als der Frage, wie sich die Mieten bremsen lassen. Worauf richten Sie Ihren Fokus?

Dass sich die Politik nur mit Mieten beschäftigt, stimmt so nicht. Mit dem Baukindergeld wird auch ordentlich Geld ausgegeben oder besser verbrannt. Auch das Bestellerprinzip bei den Maklergebühren hat die Bundesregierung nicht eingeführt und auf das Baulandmobilisierungsgesetz warten wird seit langem.

Die Themen liegen auf dem Tisch, aber die Bundesregierung hat keine Kraft mehr, Dinge in der Bau- und Wohnungspolitik anzugehen. Es braucht einen ganzheitlichen Ansatz. Firmen muss eine langfristige Perspektive gegeben werden, damit sie einstellen können, statt Strohfeuern aus Steuergeldern wie der Sonder-AfA oder dem Baukindergeld. Auch Baulandpolitik ist mehr als der § 13b BauGB, um das Bauen außerhalb der Städte und Gemeinden zu erleichtern, den wir ablehnen. Wir brauchen eine nachhaltige Bauflächenmobilisierung, die Wiedernutzung leerstehender Gebäude und mehr Aufstockung von Gebäuden für eine zukunftsfähige Stadtentwicklung.