Demographischer Wandel: Deutschland wird alt

16. August 2019


Unsere Gesellschaft befindet sich im demografischen Wandel. Viele Leute zieht es in die Städte, dort fehlt Wohnraum, auf dem Land hingegen gibt es immer mehr Leerstände. Eine Entwicklung lässt sich allerorts beobachten: Die Bevölkerung wird älter. Diese und weitere Beobachtungen haben das CIMA Institut für Regionalwirtschaft GmbH und das Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung in Ihrer Studie zur „Demografischen Lage der Nation“ untersucht. Dort wurde nicht nur analysiert, wie es heute aussieht, sondern auch, wie die Bevölkerung sich aller Wahrscheinlichkeit bis 2035 entwickelt. Wie das funktioniert und welche Schlüsse wir daraus ziehen können, erklärt CIMA Institutsleiter Fabian Böttcher im AIZ-Interview.

Interview von Johanna Böhnke

AIZ: Welche Daten wurden für die Prognose als Grundlage genommen?

Fabian Böttcher: Die Prognose beruft sich komplett auf Daten der amt­lichen Statistik. Dazu zählen die Einwohner­zahl, die Geburten, die Sterbe­fälle und die Wanderung, also die Zu- und die Fort­züge. All diese Daten haben wir für jeden der 401 Kreise in Deutsch­land über mehrere Jahre ausgewertet. Die letzten Daten stam­men dabei von Ende 2017, da die Einwohner­statistik auch im Jahr 2019 noch immer ein wenig hinter­her­hinkt.

Sie haben aus diesen Daten eine Hochrechnung bis 2035 erstellt. Wie funktioniert das?

Zunächst wird die aktuelle Bevöl­­ke­rung be­­­rück­­sich­tigt, die ist ein wesent­­licher Bestand­­teil. Jeder Ein­­­wohner wird jedes Jahr um ein Jahr älter. Außer­­dem wird durch ver­schie­dene statis­tische Ver­fahren geschätzt, wie viele Geburten es geben wird. Dafür ist zum Bei­spiel wichtig zu wissen, wie viele Frauen es gibt, die in einem Alter sind, um Kinder bekommen zu können und wie die Geburten­­ent­wicklung in der Vergangen­heit war. Das kann von Stand­­ort zu Stand­ort unter­­schiedlich sein. In einer Hoch­schulstadt beispiels­­weise leben viele Frauen zwischen 20 und 30 — die kriegen aber nicht alle Kin­der, nur weil sie theo­­retisch im pas­sen­den Alter sind. Außer­dem schauen wir in die amt­­lichen Sterbe­­tabellen, so können wir berech­nen, wie hoch die Wahr­­schein­­lich­keit ist, dass je­mand in einem bestim­mten Alter stirbt.

Große Unbekannte sind immer die Wande­rungen. Dazu muss man Annahmen treffen, wie viele Leute jährlich über die Grenzen nach Deutsch­land kommen und wie viele Deutsch­land verlassen. Hier gehen wir von einer Zunahme von 260.000 Personen pro Jahr aus. Gleich­zeitig müssen wir auch schauen, wie sich die Wande­rungen inner­halb Deutsch­lands zwischen verschie­denen Land­kreisen entwickeln. Hierzu analysieren wir eben­falls Daten aus der Vergangen­heit. All diese Daten fließen dann in ein gesamtes, großes Rechen­modell ein.

Wie genau ist eine solche Prognose?

Das Gute an einer solchen Prog­nose ist, dass wir zum Groß­teil auf aktu­elle Bevölkerungs­daten zurückgreifen können. Die Entwicklung der bereits beste­henden Bevöl­kerung lässt sich relativ gut vorher­sagen. Das Gleiche gilt für die Sterbe­fälle und Geburten. Die große Unsicher­heit besteht immer bei den Wande­rungen. Da muss man immer mit Annahmen arbeiten. Die Entwick­lung hängt von sehr vielen ökonomischen und politischen Ent­wicklungen ab, nicht nur in Deutsch­land, sondern welt­weit. Da ist es zum Bei­spiel wichtig zu wissen, ob es in bestimmten Herkunfts­ländern Krisen gibt. Für diese Daten haben wir uns mit dem Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung abge­stimmt und sind so auf die positive Bilanz von 260.000 Personen pro Jahr gekommen. Das ist wesent­lich weniger als in den Jahren 2015 und 2016, aber immer noch ein Wert, der zeigt, dass Deutsch­land für Zu­wanderer nach wie vor attraktiv ist.
Wurden auch verschiedene Szenarien durchgespielt? Zum Beispiel eine erneute große Flüchtlingswelle, Wirtschaftskrisen oder ein politischer Umschwung?

In unserem Kernszenario gehen wir davon aus, dass die Entwick­lung der Wande­rungen sich un­ge­fähr im Trend der letzten Jahre fort­­setzt, die Zu­wanderung aber Jahr für Jahr weniger wird. Das liegt zum einen daran, dass die hoch­­mobilen Menschen in den Herkunfts­ländern schon weg sind. Zum anderen gehen wir davon aus, dass sich die Rahmen­bedingungen innerhalb Europas immer mehr angleichen werden, sodass auch andere euro­päische Länder für Zu­wanderer attraktiver werden.

Gleichzeitig gibt es aber noch weitere inte­res­sante Szenarien. Zum Beispiel haben wir ein Szenario berechnet, in dem wir Zu- und Abwanderung ausgeklammert haben. So ist eine Entwicklung gut erkennbar, die sich kaum beeinflussen lässt: die Alte­rung der Gesell­schaft. Daran kann man sehr schön sehen, dass die Wanderungen zwar sehr wichtig sind, dass die Prognose aber vor allem schon durch die heutige Alters­struktur und die Alterung stark vor­gezeichnet ist. Unvorher­sehbare, ein­schneidene Ereig­nisse wie einen poli­tischen Um­schwung haben wir jedoch in kein Szenario ein­fließen lassen.
Was sind die wichtigsten Trends, die sich in der Untersuchung zeigen?

Wir beobachten in den Prognosen drei wichtige Trends: Erstens trifft der demo­grafische Wandel nach wie vor alle Regionen, wenn auch in unter­­schiedlicher Inten­sität. Zweitens sehen wir auch dreißig Jahre nach der Wieder­vereinigung sehr deut­liche Unter­schiede zwischen Ost- und West­deutschland. Die Alterung der Bevöl­kerung ist in Ostdeutschland in weiten Teilen sehr viel weiter fortgeschritten als in Westdeutschland. Das liegt daran, dass nach der Wende­zeit viele junge Leute in den Westen abgewandert sind. Drittens entwickeln sich Städte und urbane Räume nach wie vor wesentlich günstiger als ländliche Regionen. Da gibt es aber natür­lich auch Aus­nahmen. Einige Städte haben stark mit Einwohnerrückgängen zu kämpfen, während ausgewählte ländliche Räume, wie das Oldenburger Münsterland, sich sehr positiv entwickeln.

Deutschlandprognose 2035 Variante II Wohnungsmarktrelevante Bevolkerung

Was bedeuten diese Entwicklungen für Deutschland?

Das bedeutet vor allem, dass man mit Augen­maß reagieren muss. Es gibt nicht ein Schema F für jede Region. Man muss die demo­grafische Ent­wicklung in jeder Region betrachten und auf die jewei­ligen Hand­lungs­­erfordernisse ein­gehen. Schrump­­fende Räume haben ganz andere Heraus­­forderungen als noch wach­sende Regionen.

Für wen sind diese Daten wichtig? Welche Branchen und Institute müssen damit arbeiten?

Die Einwohnerzahl ist der Dreh- und Angel­punkt in der Regional­entwicklung. Sie ist ein Einfluss­faktor für vieles und gleich­­zeitig wirkt aber auch fast alles auf die Einwohner­­zahl. Die Kenntnis der Einwohner­­zahl und vor allem des Alters­­aufbaus der Bevöl­kerung ist für alle, die planen müssen, wichtig: Wie viele Wohnungen und welche Wohnungen werden ge­braucht, welche Infra­struktur wird be­nötigt und wo ent­stehen zukünftig Arbeits­plätze? Prog­nosen zur Bevölkerungs­entwicklung helfen, diese Fragen zu klären. Damit hängt auch zusammen, wie öffentl­iche Gelder verteilt werden. Aber es ist natürlich auch wichtig für Unter­nehmen, die planen müssen, wo sie ihre Produkte ver­kaufen können, weil dort Personen im richtigen Alter leben.
Wie beeinflussen diese Entwicklungen die Immobilienbranche?

Ob die Einwohnerzahl wächst oder sinkt, hat natürlich Einfluss auf die Nachfrage und den Wettbewerb und damit in vielen Regionen auch auf die Preise. Fast noch wichtiger ist aber, wie sich die Alters­struktur verändert. Denn damit ergeben sich viel­fältige Heraus­forderungen — auch beim Thema Wohnen. Es kann schließlich sein, dass die Einwohner­zahl in einer Region konstant bleibt, aber da­durch, dass sich in den nächsten 15 Jahren die Alters­struktur verändert, gehen mehr Menschen in Rente, und es stehen weniger Arbeits­kräfte zur Ver­fügung. Das heißt, es müssen weniger Leute zu ihrem Arbeits­platz pendeln. Auf der anderen Seite hat man mehr Menschen im Renten­alter, das heißt man braucht mehr Senioren­wohn­heime. Für Makler ist das wichtig zu wissen, denn dort, wo die Gesell­schaft altert, über­legen viele Leute, ob sie weiterhin in ihrem Ein­familien­haus leben möchten oder lieber in eine barriere­freie Miet­wohnung ziehen. Das heißt natürlich, dass gerade in solchen Regionen, die stark vom demografischen Wandel betroffen sind, viele Immobilien den Besitzer wech­seln werden.

Ab wann bekommen Regionen durch ein Bevölkerungs­wachstum oder eine -abnahme Probleme?

Entscheidend ist nicht die prozentuale Veränderung, sondern wie die Region ausgestattet ist. Wenn in einer stark nach­­ge­­fragten Stadt mit nur zwei Pro­zent Leer­­stand die Bevöl­kerungs­zahl weiter steigt, dann hat das ganz andere Aus­­wirkungen als in einer Region mit einem weniger ange­­spanntem Markt. Und auch in Regionen, in denen die Bevölkerungs­zahl zurück­geht, heißt es nicht, dass keine Bau­tätigkeit mehr statt­findet. Schließlich wird es trotz­dem noch eine Nach­frage nach speziellen Immobilien geben, die am Markt nicht verfügbar sind. Das gilt wieder ins­besondere für Regionen, in denen die Bevöl­kerung immer älter wird. Denn dort steigt die Nachfrage nach zentralen, barrierearmen Wohnungen.

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