Die Verantwortung der öffentlichen Meinung

23. Dezember 2019


In Leipzig ist am 3. November 2019 eine 34-jährige Mitarbeiterin eines Wohnungsbauunternehmens von zwei vermummten Personen in ihrer Wohnung angegriffen und mit Faustschlägen im Gesicht verletzt worden. Das ist der bisherige Höhepunkt einer Entwicklung des gesellschaftspolitischen Klimas, zu der auch die Zeitschrift „Stern“ durch die Veröffentlichung einer Karikatur beigetragen hat.

Von Jürgen Michael Schick, Präsident IVD Immobilienverband Deutschland

In der Ausgabe Nummer 18/2019 des Magazins „Stern “ vom 25. April 2019 wurde eine Karikatur veröffentlicht, wegen deren Publikation sich der Immobilienverband Deutschland IVD zum Anlass gezwungen sah, eine offizielle Beschwerde beim Deutschen Presserat einzureichen. Die Karikatur zeigt zwei Frauen mittleren Alters. Die eine sagt: „Mein Sohn ist im Vorstand eines Berliner Wohnkonzerns.“ Die andere antwortet: „Schade, dass es damals noch keine Fruchtwasseruntersuchung gab.“ Das befand die „Stern“-Redaktion für eine gelungene humoristische Anspielung auf die derzeitig angespannte Situation am Wohnungsmarkt und die lautstark von manchen Initiativen angestachelte Debatte um eine potenzielle Enteignung deutscher Immobilienunternehmen.

Mit Verlaub war diese Karikatur weder gelungen noch humoristisch, sondern erstens menschenverachtend und zweitens zur Gewalt anstiftend. Das sind gewagte Vorwürfe von Seiten des Präsidenten eines Berufsverbandes, wie es der IVD ist, der auf eine 95jährige Geschichte zurückblickt und aktuell mehr als 6.000 Mitgliedsunternehmen in sechs Regionalverbänden vertritt. Diesen Vorwurf zu formulieren, hat zu internen Diskussionen in den Gremien des Verbandes geführt, doch beruht der letztliche Entschluss der Vorwurfserhebung auf den Geschehnissen, die seit der Veröffentlichung der Karikatur stattgefunden haben und bislang in der Verletzung einer Mitarbeiterin eines Leipziger Wohnungsbauunternehmens ihren traurigen Höhepunkt erreicht haben.

Die Karikatur erschien am 25. April 2019. Keine Woche später demonstrierten in Berlin am 1. Mai 2019 Menschen und zeigten unter anderem Transparente mit dem Aufruf „Kill your Landlord“, zu Deutsch: „Töte deinen Vermieter“. Die Demonstration wurde mit Plakaten beworben, auf denen Guillotinen zu sehen waren. Wir haben diese Aufrufe zum Mord mit Entrüstung und Unverständnis zur Kenntnis genommen. Soll das etwa ebenfalls humoristisch aufgefasst werden, als öffentliche Zurschaustellung der besonderen Ironiebegabung der Demonstrationsteilnehmer? Nicht zu verkennen war jedenfalls der inhaltliche Zusammenhang zwischen dem Aufruf zum Mord an Vermietern und Eigentümern und der Karikatur im „Stern“, die ebenfalls das Leben von Mitarbeitern in Immobilienunternehmen als nicht lebenswert bezeichnet.
Als Vertreter von mehr als 6.000 Unternehmen, die mit der Bewertung und Begutachtung, der Verwaltung, dem Bau, der Instandhaltung und Sanierung bis hin zum Verkauf von Immobilien für sich und ihre Familien ihren Lebensunterhalt verdienen, sehe ich die Absprache der individuellen Lebenswürde von Vertretern unseres Berufsstandes naturgemäß kritisch. Kurz gesagt, war ich, war der gesamte Vorstand des Verbandes, waren Tausende Mitglieder und weitere Tausende Beschäftigte der deutschen Wohnungswirtschaft entsetzt und sprachlos, mit welcher Geschmack-
losigkeit und Penetranz das Leben einzelner Menschen allein aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten Berufsgruppe für unwürdig erklärt werden sollte. Manch ein Kommentator verwies darauf, wie es denn wohl wäre, wenn anstelle der Zugehörigkeit zu einer Berufsgruppe die sexuelle Orien-
tierung oder die Religionszugehörigkeit durch den Dreck gezogen, pardon: karikiert worden wäre? Die sexuelle Ausrichtung kann man sich nicht aussuchen und die Religionszugehörigkeit auch nur unter Umständen. Das macht es also besser?!

Bereits am 30. April legte der Immobilienverband Deutschland eine Beschwerde vor dem Deutschen Presserat ein und forderte ihn auf, die Karikatur auf Einhaltung der Statuten und Kodizes des Presserates zu überprüfen und bei etwaigen Verstößen eine Rüge auszusprechen. Am 28. August wurde die Beschwerde seitens des Presserates abgewiesen. In der Begründung des Presserates heißt es unter anderem: „Die Karikatur diskriminiert Vorstände von Wohnkonzernen nicht, noch würdigt er [sic] sie herab. Vielmehr verdeutlicht der Autor mit seiner Zeichnung die in Teilen der Öffentlichkeit herrschende Stimmung im Hinblick auf Immobilienunternehmen in zugespitzter Art und Weise.“

Es ist weitaus schlimmer gekommen: Ob die Zeichnung diskriminierend und herabwürdigend war oder nicht, mag inzwischen dahingestellt sein. Die Veröffentlichung hat vielmehr in Vorwegnahme des Angriffs von Leipzig auf die Mitarbeiterin des Wohnungsbauunternehmens den Anspruch von Angehörigen einer bestimmten Berufsgruppe auf körperliche Unversehrtheit geleugnet und ins Lächerliche gezogen.

Erschreckend ist, dass dem Angriff vom 3. November bereits schwere Sachschäden an Baustellen in Leipzig vorausgegangen waren. Anfang Oktober 2019 gab es mehrere Brandanschläge auf Baustellen, bei denen unter anderem zwei Baukräne abbrannten und Sachschäden in zweistelliger Millionenhöhe entstanden waren. Jenseits des menschlichen Fassungsvermögens aber ist vor allem, dass die Angreifer auf die Mitarbeiterin eines Wohnungsbau-
unternehmens in ihrem auf „Indymedia“ veröffentlichten (und mittlerweile gelöschten) Bekennerschreibens die von ihnen begangene Körperverletzung damit rechtfertigten, dass für die angerichteten Sachschäden Versicherungen aufkämen und man daher die Angestellte direkt habe verletzen wollen: „Wir freuen uns, wenn sich der Bau von Luxuswohnung o.Ä. verzögert, denken aber, dass diese Aktionsform angesichts vollumfänglicher Versicherungsabdeckung nur symbolischen Charakter hat. Wir haben uns deswegen entschieden, die Verantwortliche für den Bau eines problematischen Projekts im Leipziger Süden da zu treffen wo es ihr auch wirklich weh tut: in ihrem Gesicht“ [Orthografie und Interpunktion sind übernommen].

Die Radikalisierung der sozioökonomischen Debatte um den Wohnungsmangel in den deutschen Metropolen und Ballungsgebieten hat eine von Teilen der Bevölkerung und Politik bewusst in Kauf genommene Eskalationsstufe erreicht, der die deutsche Medienlandschaft nicht gerecht wird, indem sie sich nach Belieben unter Verweis auf Witz und Humor respektive Freigeistigkeit und Unabhängigkeit zu exkulpieren sucht, während es gleichzeitig zunehmend zu Gewalt gegen Angehörige bestimmter Berufsgruppen kommt.

 

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