Fluch und Segen zugleich — wie die anerkannten Regeln der Technik das Bauen verteuern

3. Februar 2024


Bauen ist teuer. Kostentreiber sind die aktuell hohen Zinsen und Baustoffpreise, aber auch eine Vielzahl an technischen Regelungen und Standards, die beachtet werden müssen. Und zwar ohne Rücksicht darauf zu nehmen, ob und in welchem Umfang diese im Hinblick auf die geplante Verwendung und Beschaffenheit wirklich notwendig sind. Eine zentrale Rolle spielen dabei die sogenannten anerkannten Regeln der Technik. Ein Gutachten im Auftrag der Bundesarbeitsgemeinschaft Immobilienwirtschaft Deutschland (BID), der der IVD angehört, zeigt jetzt Wege auf, um vereinfachtes und kostengünstiges Bauen in der bauvertraglichen Praxis leichter zu ermöglichen.

Von Christian Osthus

Zu den anerkannten Regeln der Technik gehören DIN-Normen und andere technische Baubestimmungen. Diese Regeln garantieren zwar Sicherheit und Qualität, sie können aber auch dazu führen, dass etwas gebaut wird, was nicht notwendig ist. Oder dass eine Baumaßnahme nicht ausgeführt wird, die denselben Zweck erfüllt. Die Stärke der anerkannten Regeln der Technik rührt aus der sogenannten Vermutungswirkung.

Es wird vermutet, dass Normen und Baubestimmungen allgemein anerkannte Regeln der Technik sind. Sie erhalten dadurch eine faktische Rechtskraft für Bauverträge, weil angenommen wird, dass die Parteien diese Regeln und den damit verbundenen Standard wollen. Abweichungen von diesen Standards sind kaum rechtssicher zu vereinbaren. Deswegen bleibt es dabei, dass von den anerkannten Regeln der Technik nicht abgewichen wird — auch wenn es teurer wird. Die anerkannten Regeln der Technik sind dadurch gewissermaßen Fluch und Segen zugleich.

Gebäudetyp E wie einfach oder experimentell

In Ansehung des enormen Bedarfs an Wohnraum muss der Wohnungsbau dringend wieder angekurbelt werden. Die Architektenkammern haben den sogenannten Gebäudetyp E vorgeschlagen, wobei zunächst nicht genau dargelegt wurde, wie dieser aussehen soll. Da das „E“ für „einfach“ oder „experimentell“ steht, geht es offenbar um die Absenkung beziehungsweise Anpassung von Standards und technischen Normen, hin zu einem kostengünstigeren Standard.

Das Bauen unter dem Schlagwort Gebäudetyp E zielt mithin darauf ab, die Vielzahl an Normen und Regelwerken auf den Prüfstand zu stellen und gegebenenfalls zu reduzieren, um damit
kostengünstigere und zugleich ressourcenschonendere Gebäude errichten zu können.

In Bayern ist man insoweit schon einen Schritt weiter. Dort hat die Staatsregierung insgesamt 19 Pilotprojekte auf den Weg gebracht, wo das normreduzierte Bauen ausprobiert werden soll, ohne dabei die Sicherheit des Gebäudes und seiner Bewohner zu beeinträchtigen. Einige Projektteilnehmer wollen beispielsweise einen reduzierten Schallschutz oder eine vereinfachte Haustechnik umsetzen, alternative Baustoffe verwenden oder einen geringeren Stellplatzschlüssel ausprobieren.

Im Sommer 2023 hat das Bayerische Bauministerium den Boden dazu bereitet, indem Artikel 63 der Bayerischen Bauordnung (BayBO) von einer Ermessensvorschrift in eine Sollvorschrift umgewandelt wurde. Dadurch können nun Abweichungen von der Bauordnung regelmäßig zugelassen werden, insbesondere bei Vorhaben zur Erprobung neuer Bau- und Wohnformen. Dem Beispiel Bayerns sollten auch andere Länder folgen. Für den Erfolg des Gebäudetyp E ist aber auch entscheidend, ob es gelingt, im Bereich des Zivilrechts Optionen für Abweichungen von den anerkannten Regeln der Technik zu schaffen.

BID-Gutachten zur Änderung des Bauvertragsrechts

Die Bundesarbeitsgemeinschaft Immobilienwirtschaft Deutschland (BID), hat den renommierten Juristen und ehemaligen Richter am Bundesgerichtshof Prof. Stefan Leupertz beauftragt, Lösungen für die zivilrechtliche Problematik zu entwickeln. Ende 2023 hat er ein Gutachten mit konkreten Lösungsansätzen vorgelegt.

Lösungsansätze

Das Gutachten zeigt Wege auf, um vereinfachtes und kostengünstiges Bauen in der bauvertraglichen Praxis leichter zu ermöglichen. Es geht darum, vertragliche Spielräume rechtssicher und ohne nennenswerte Einschränkung der Wohnqualität zu nutzen. Diese vertraglichen Spielräume sind durch gesetzliche Änderungen im Bauvertragsrecht zu flankieren. Werkvertragliche Leistungsverpflichtungen sind durch gesetzliche Klarstellungen von allgemein anerkannten Regeln der Technik zu entkoppeln, wodurch ein einfaches, kostengünstiges und rechtssicheres
Bauen vorangebracht wird. Seine Lösungsansätze betreffen sowohl die Verträge im unternehmerischen Bereich als auch die Verträge mit Verbrauchern.

Verträge im unternehmerischen Bereich

Die Vertragspartner im unternehmerischen Bereich benötigen im Hinblick auf einzuhaltende technische Standards weitergehende Flexibilität bei der Planung und Durchführung von Bauvorhaben. Wesentlicher Punkt einer solchen Flexibilisierung muss die Abkehr von der nach heutigem Recht zwangsläufigen Ausrichtung an den allgemein anerkannten Regeln der Technik sein. Es muss der freien vertraglichen Vereinbarung unterliegen, welche gestalterischen, planerischen und baulichen Maßnahmen verwirklicht werden sollen. Dies sollte nicht nur vor Baubeginn, sondern auch während der Durchführung von Baumaßnahmen gelten.

Vorschläge:

  • Für Verträge ohne Verbraucherbeteiligung ist gesetzlich festzulegen, dass die allgemein anerkannten Regeln der Technik nicht mehr „automatisch“, sondern nur dann zur vertraglichen Leistungsverpflichtung werden, wenn das zwischen den Vertragsparteien ausdrücklich vereinbart wurde.
  • Nachträgliche Vertragsanpassungen zur Erreichung des Werkerfolgs ohne vorherigen Einigungsversuch ermöglichen (§ 650b BGB). Vertragliche Abweichungen zur Preisanpassung bei Vertragsänderungen zulassen (§ 650c BGB).
  • Klarstellung zum Vorrang privatautonomer Regelungen bei Bauablaufstörungen.
  • Anpassung der Vertragsordnung für Bauleistungen, Teil B (VOB/B) an die vorgeschlagenen gesetzlichen Neuregelungen.

Verträge mit Verbrauchern

Kostengünstigere und nachhaltige Neubauten und Wohnungssanierungen anbieten zu können, kann nur durch die rechtssichere Absenkung technischer Anforderungen erreicht werden, zumal andere Einflussgrößen wie Lohnkosten und Materialpreise von den Baubeteiligten kaum zu beeinflussen sind. Das bedeutet aber, dass die heute bestehende feste Koppelung werkvertraglicher Leistungsverpflichtungen an die allgemein anerkannten Regeln der Technik zwingend gelöst werden muss.

Vorschläge zur Neuregelung von § 633 BGB:

  • Bei Verbraucherverträgen sollen die allgemein anerkannten Regeln der Technik weiterhin „automatisch“ gelten, solange nichts andere vereinbart wird.
  • Abweichende Vereinbarung sind aber möglich mit der gesetzlichen Verpflichtung, die jeweilige Verbraucher-Vertragspartei ausdrücklich darauf hinzuweisen, dass nach dem Vertragsinhalt von den allgemein anerkannten Regeln der Technik abgewichen wird.
  • Standardisierung dieses Hinweises durch gesetzliche Vorgabe der dabei zu verwendenden Formulierung (vergleichbar: Belehrung über Widerrufsrecht bei Verbraucherverträgen, § 355 BGB). Die Verwendung erzeugt Rechtssicherheit für die vertraglichen Abweichungen.
  • Verbraucher werden bei dem vertraglichen Hinweis auch auf die Notwendigkeit hingewiesen, sich extern über die Abweichungseinzelheiten und die daraus für sie möglicherweise resultierenden Folgen zu informieren, sofern sie dies für notwendig erachten.

Mehr Mut am Bau

Unabhängig von der Frage der gesetzlichen Änderung appelliert Prof. Stefan Leupertz an die Vertragsparteien, also den Bauherren und den Erbringer der Bauleistungen, mutiger zu sein. So eröffnen sich dann Spielräume durch ein Abweichen von den anerkannten Regeln der Technik, um signifikante Kostensenkungen zu ermöglichen. Konsequenterweise müssen diesen Mut aber auch die späteren Käufer und Mieter mitbringen. Denn ohne dass die Marktteilnehmer eine Akzeptanz für Immobilien aufbringen, die abweichend von den anerkannten Regeln der Technik errichtet wurden, wird der Gebäudetyp E eine Worthülse bleiben, die nur marketingtechnisch ein Erfolg war.

Das Gutachten wurde zwischenzeitlich der Öffentlichkeit und der Politik präsentiert. Nun liegt es am Bundesgesetzgeber, den Schwung der Diskussion um den Gebäudetyp E zu nutzen, um etwas zu bewegen. Dass dort eine Bereitschaft besteht, ergibt sich aus dem Maßnahmenplan der Bundesregierung von Ende September 2023. Einer der 14 Punkt betrifft auch den Gebäudetyp E. Dort heißt es unter Ziffer 8.:

„Bauen muss zukünftig einfacher, schneller und günstiger werden. Dazu soll das Bauen im Sinne des Gebäudetyps E befördert werden, indem die Vertragspartner Spielräume für innovative Planung vereinbaren, auch durch Abweichen von kostenintensiven Standards. Die Länder beabsichtigen, dazu Änderungen der Musterbauordnung und der Landesbauordnungen vorzunehmen. Die Bundesregierung wird – in Absprache mit den Partnern des Bündnisses – eine „Leitlinie und Prozessempfehlung Gebäudetyp E“ bis Ende des Jahres vorlegen, um dafür zu sorgen, dass für die Beteiligten vereinfachtes Bauen rechtssicher gelingen kann.“

Also auf geht‘s!

 

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