Investment in die Zukunft: Deutschlands erstes energieautarkes Mehrfamilienhaus

11. April 2019


Strengere gesetzliche Vorgaben im Bausegment, unsichere geopolitische Einflüsse und eine steigende Nachfrage nach bezahlbarem Wohnraum lassen Wohnungsunternehmen nach neuen Wegen suchen. Die Wilhelmshavener Spar- und Baugesellschaft eG setzt dabei auch auf Energieautarkie.

Von Dieter Wohler und Peter Krupinski

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Das Wohnen in deutschen Städten wird immer teurer. Für eine durchschnittlich große Wohnung mit knapp 60 Quadratmetern müssen die meisten Mieter mindestens ein Drittel ihres Nettoeinkommens aufbringen, oftmals deutlich mehr. Vor diesem Hintergrund wird jeder Kostenfaktor, wie Strom, Heizung oder Warmwasser, zum Zünglein an der Waage des Haushaltsbudgets. Die Suche nach Kostenoptimierungsmöglichkeiten in diesem Segment (Stichwort: Betriebskosten-Benchmarking) gehört daher für viele Wohnungsunternehmen mittlerweile zu den Standard-Prozessen.

Als Wohnungsbaugenossenschaft soll die Spar+Bau für gutes, sicheres und sozial verantwortbares Wohnen ihrer Mitglieder zu sorgen. Energieeffizienz ist dabei seit Jahren — nicht nur aufgrund der gesetzlichen Vorgaben wie der Energieeinsparverordnung — ein Leitbild, dem die Wilhelmshavener beim Bauen folgen. Im November 2017 betraten sie als Bauherren echtes Neuland: Rund 2,47 Millionen Euro investierten sie in den Bau des ersten energieautarken Mehrfamilienhauses Deutschlands.

Ein Pilotprojekt mit sechs gut 90 Quadratmeter großen Wohnungen, das den neuen Mietern seit Januar 2018 komfortables Wohnen zur Pauschalmiete ermöglicht. Ein Novum auf dem Wohnungsmarkt und eine Win-win-Situation für Vermieter wie Mieter. Dank der Bauweise konnte die Genossenschaft hier eine Gesamtmiete kalkulieren, die mit 10,50 Euro/m2 neben den Betriebs- und Heizkosten auch den Strombedarf der Mieter berücksichtigt. Gegenüber einer Kaltmiete in einem Neubau in Wilhelmshaven, die bei 8,25 Euro/m2 liegt, beträgt der kalkulatorisch bereinigte Kaltmietanteil ihrer Mieter lediglich 6,95 Euro/m2. Während ihre Mieter von Kostensicherheit und einem klaren Kostenvorteil profitieren, reduzieren sich für Spar+Bau als Vermieter mögliche Streitigkeiten um Betriebs- und Heizkostenabrechnungen, Fluktuation und Verwaltungsaufwand.

Das Haus wird zum Speicher und zur Tankstelle

Das Konzept für das energieautarke Mehrfamilienhaus stammt vom Freiberger Energieexperten Prof. Dipl.-Ing. Timo Leukefeld, der der Genossenschaft beratend zur Seite stand. Er fasste bekannte Baustandards, wie Sonnenhaus, Plusenergie- oder Effizienzhaus Plus sowie Passivhaus in einem Modell zusammen und entwickelte sie weiter. 165 m2 Photovoltaik-Fläche und 96 m2 Solarthermie-Fläche auf dem Dach, an der Fassade und an den Balkonverkleidungen, zwei Batteriespeicher mit 22 kWh sowie das Herzstück des Hauses, ein 20.000 Liter fassender Schichtenspeicher, sorgen für einen Autarkiegrad von rund 70 Prozent. Dank Solarenergie können ca. 31.700 Kilowattstunden des Jahresenergiebedarfs abgedeckt werden. Von Frühjahr bis Herbst gibt das energieautarke Mehrfamilienhaus sogar noch solaren Energieüberschuss an die Nachbargebäude ab. Außerdem speist es eine hauseigene E-Tankstelle mit zwei Ladesäulen, die von den Mietern kostenlos genutzt werden können.

Was das Haus in den Wintermonaten an Wärmebedarf nicht durch solare Energie gewinnt, deckt eine Erdgasbrennwertheizung ab. Strom wird dann bei Bedarf aus dem öffentlichen Netz bezogen. Die Pauschalmiete berücksichtigt für Strom und Heizung jährliche Verbrauchsobergrenzen von 3.000 Kilowattstunden und 100 m3 Wasser pro Wohneinheit. Diese Werte beruhen auf Durchschnittsverbräuchen in konventionellen Gebäuden. Sie sind bei einer normalen Nutzung problemlos einzuhalten und beinhalten darüber hinaus bereits einen Sicherheitspuffer. In den Wohnräumen installierte Displays informieren die Bewohner täglich über ihre aktuellen und bisherigen Verbrauchswerte. Im Hauseingang zeigt ein Flachbildschirm den tagesaktuellen und bisher erzielten solaren Ertrag des gesamten Gebäudes sowie die Gesamtverbräuche an. Das bedeutet für alle Beteiligten Kostenkontrolle und Transparenz — zu jeder Zeit.

Keine Frage, die Kosten für die technische Gebäudeausstattung waren bei diesem Pilotprojekt relativ hoch. Auch in die Wohnungsausstattung hat Spar+Bau kräftig investiert: hochwertige Einbauküchen, die mit Elektrogeräten der Energieeffizienzklasse A+++ ausgestattet sind, teilweise abgehängte Decken mit LED-Beleuchtung sowie Hauswirtschaftsräume, in denen energieeffiziente Waschmaschinen und Trockner bereitstehen. Das bedeutet einen Wohnstandard, der für Mietwohnungen in dieser Preisklasse alles andere als üblich ist. Die Erfahrungen, die die Wilhelmshavener bei der Bewirtschaftung des ersten energieautarken Mehrfamilienhauses gewinnen, werden in die Planung künftiger Neuvorhaben einfließen. Die kommenden Jahre werden zeigen, ob vernetzte Energieautarkie ein tragfähiges Konzept für den Wohnungsbau sein kann. Weitere energieautarke Mehrfamilienhäuser von anderen Wohnungsunternehmen werden dieses Jahr noch bezugsfertig. Eines steht bereits fest: Für den Klimaschutz sind solche Häuser schon jetzt ein großer Schritt nach vorne.

Foto: © Wilhelmshavener Spar- und Baugesellschaft eG