Twitch ist die neue hoffnungsvolle Social-Media-Portal der Generation Z. Weil Facebook und Co. was für Rentner sind. Die jungen Leute von heute leben lieber im Hier und Jetzt und lassen sich in Echtzeit dabei begleiten. Eine neue Möglichkeit fürs digitale Open House?
Von Jan Kricheldorf
Mit Live-Übertragungen war es schon immer so eine Sache: Sie erforderten gute Planbarkeit und Funkwagen, um von einem Ereignis in Echtzeit zu berichten. Viel Technik, viel Personal, hohe Kosten. Nichts für Laien. Dann kamen YouTube und Zoom und der Aufwand reduzierte sich deutlich. Doch YouTube kann zwar live, steht heute aber vor allem für Videos, die auf Wunsch aus der Konserve abgerufen werden können, und Zoom wird eher für Videokonferenzen genutzt.
Das neue Streamen
Das US-amerikanische Start-up-Unternehmen Twitch hat das populär gewordene Streamen noch einmal einfacher gemacht und ermöglicht Live-Übertragungen von überall und zu jeder Zeit. Ein Smartphone genügt schon. Anders als bei Live-Events in der Vergangenheit möglich, lebt Twitch von der Interaktivität. Damit will sich die Plattform als eine Art Live-Plattform To Go von Zoom und anderen Streaminganbietern absetzen. Über den Chat kann der Amateur-Reporter ganz einfach aktiviert oder gebeten werden, Fragen zu stellen oder sich an einen bestimmten Ort zu bewegen.
Auf diese Weise entwickelt sich Twitch als eine Art offener Kanal zum Anfassen in digital. Es ist kinderleicht, einen eigenen Kanal zu gründen und fortan sein Leben live zu teilen. Und so geschieht es auch. Wer „twitscht“, hat Lust daran, dass er ständig von fremden Menschen begleitet wird.
Die neue Influencer-Szene
Die Wurzeln von Twitch liegen ursprünglich in der Gamerszene. Ging es anfangs nur darum, den Spielexperten beim Gamen über die Schultern schauen zu können, hat sich in den letzten Jahren immer mehr eine neue Influencer-Szene gebildet, die gerne von großen Firmen wie Aldi und Lidl vor die Marke gespannt wird. Die Unternehmen erhoffen sich, die schwer zu greifende Zielgruppe der 16 bis 30-Jährigen besser erreichen zu können. Nicht nur, um ihnen Spiele zu verkaufen, sondern auch, um das angestaubte Image der klassischen Handelsmarken aufzufrischen.
Tatsächlich fragen sich viele Marketingexperten, wie mehr Reichweite aufgebaut und die ausgabefreudige Zielgruppe besser aktiviert werden können. In den USA sind aus diesem Grund schon zahlreiche Live-Plattformen entstanden, wo ähnlich wie beim TV-Shopping Produkte im Internet von Moderatoren in Echtzeit verbimmelt werden. Noch führen diese Plattformen ein Nischendasein, aber genau so begann auch die Ära der Start-up-Giganten Ebay, Google und Amazon. Twitch hat das Potenzial, im Laufe der nächsten Jahre große Marktanteile zu gewinnen. Vor allem dann, wenn Großprojekte wie das Metaverse von Zuckerberg eine Vision bleiben.
Live-Immobilienbesichtigungen
Für die Immobilienvermarktung gibt es einen solchen Marktplatz oder eine Plattform wie Twitch noch nicht. Aber es wird nur eine Frage der Zeit sein, bis wir — von wo auch immer — durch Live-Besichtigungen switchen können und mit dem Makler in Interaktion treten können.
Der Makler als Showmaster
Auch ohne eine Plattform wie Twitch streamen bereits einige Immobilienprofis regelmäßig. So wie der Münchner Makler Michael Mühlmann. Einmal im Monat können Kaufinteressenten seiner Immobilien-Käufer-Show folgen. Hier informiert der Münchner darüber, welche Chancen Käufer aktuell haben, eine Immobilie zu finden und zu finanzieren. Zusätzlich stellt er seine Top-Angebote vor und kann auf Fragen von Nachfragern, die anonym teilnehmen, direkt eingehen.
Diese wiederum bemerken, dass sie nicht allein sind, wenn sie sich für ein Angebot interessieren und werden bei echtem Kaufinteresse trotz der aktuellen ungünstigen Lage an den Märkten vielleicht eher geneigt sein, ein Angebot abzugeben.
Aber so richtig live, wie das Twitcher als live betrachten, ist das ja nicht. Das würde bedeuten, der Makler ist tatsächlich vor Ort in der Immobilie, die zum Verkauf steht, und anstelle eines Besichtigungsroboters Sam (wir berichteten) ist es ein echter Mensch, mehr noch ein Fachmann, der Rede und Antwort steht.
„Stream“ kann „vor Ort“ nicht ersetzen
Natürlich weiß ich, dass die meisten Makler sagen, dass eine Besichtigung vor Ort nicht zu ersetzen ist. Ich sehe eine vorgelagerte Live-Besichtigung auch eher als eine Möglichkeit an, einen ersten Eindruck zu erhalten und Fragen stellen zu können, ohne als geplagter Immobiliensuchender Anfahrten auf mich nehmen zu müssen. Das ist praktisch und hilft mir, erkennen zu können, ob es sich lohnt, ein Angebot abzugeben oder die Immobilie tatsächlich vor Ort zu besichtigen.
Für Makler sehe ich den Vorteil darin, sich von Mitbewerbern absetzen zu können und schlicht Zeit zu sparen. Denn nachdem sich die Portfolios nach der Kaufpreiswende zum Teil vervierfacht haben, gilt es eben auch viel mehr Objekte zu betreuen.
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