Mehr Flexibilität bei Arbeitsplatz und Arbeitszeiten wagen

10. Oktober 2022


Der Fachkräftemangel erreicht in Deutschland einen neuen Höchststand. Im Juli 2022 waren 49,7 Prozent der Unternehmen beeinträchtigt. Betroffen ist besonders die Dienstleistungsbranche. Das geht aus einer Erhebung des ifo Instituts hervor. Die Mitarbeitersuche ist ein schwieriger Prozess. Die AIZ fragte beim renommierten Coach und Führungskräfte-Trainer Axel Rittershaus nach, was Unternehmen tun sollten, um neue Fachkräfte für sich zu gewinnen.

Interview von Heiko Senebald

AIZ: Haben Sie drei Tipps, wie man schnell gute Mitarbeiter findet und für sich gewinnt?

Axel Ritterhaus: Erstens: Wenn es schnell gehen soll und wenn es gute Fachkräfte sein sollen, dann muss ich entsprechend viel Geld in die Hand nehmen. Das liegt nicht daran, dass die Leute geldgierig sind, sondern dass sie derzeit extrem gefragt sind und auch wissen, was sie können. Warum sollten sie sich dann billig verkaufen? Zweitens: Die Stelle muss präzise beschrieben werden und klare Zielsetzungen enthalten. Vor allem für jüngere Bewerber muss es Perspektiven geben. Sie wollen ihre Stärken einbringen und sich weiterentwickeln. Drittens: Bitte keine Versprechungen machen, die ich dann nicht halte. Ansonsten sind die Mitarbeiter schneller wieder weg als sie da waren.

Wie schätzen Sie die aktuelle Lage für Unternehmen ein?

Die meisten Unternehmen stellen sich die Frage, wie sie auf dem umkämpften Markt am besten neue Fachkräfte gewinnen können. Dabei übersehen sie meist, dass sie vorhandene Fachkräfte gar nicht richtig einsetzen. Hierauf sollte der Fokus liegen. Viele Mitarbeiter schöpfen ihr Potenzial lange nicht aus.

Sie haben gerade die Stellenausschreibungen angesprochen. Was wird hier am häufigsten falsch gemacht?

Die Stellenbeschreibungen sind mittlerweile fast zu einer Weihnachtswunschliste verkommen, in denen man von einem 21-jährigen Neueinsteiger 30 Jahre Berufserfahrung abverlangt. Und das für einfache Tätigkeiten. Ich erlebe zum Beispiel häufig, dass für Tech-Unternehmen Mitarbeiter mit zehnjähriger Berufserfahrung gesucht werden, obwohl es die eigene Technologie gerade einmal zwei Jahre gibt. Viel wichtiger ist aufzuzeigen, mit welchen Fähigkeiten ein Bewerber was im Unternehmen erreichen kann.

Der Bewerber muss heutzutage also kein Allrounder sein?

Nein, muss er nicht. Bei der Mitarbeitersuche beziehungsweise bei der Stellenbeschreibung muss klar definiert werden, dass in der zu besetzenden Position drei oder vier Fähigkeiten vorhanden sein müssen. Damit mache ich das Feld für potenzielle Bewerber größer. Es gibt in den Beschreibungen viel zu viele abstruse Anforderungen, die gar nicht erfüllbar sind.

Das Homeoffice hat die Arbeitswelten nachhaltig verändert…

Ja. Hier müssen sich die Arbeitgeber vom klassischen Denken lösen und neue Möglichkeiten zulassen. Das heißt auch: Führungskräfte müssen besser darin werden, Verantwortung abzugeben, über Ergebnisse zu führen und nicht über die Anwesenheit ihrer Mitarbeiter. Ausprobieren und neue Wege gehen, sollte die Devise lauten.

Haben Sie ein Beispiel für „neue Wege“?

Ich beschreibe es mal etwas provokant: Muss man bei der Vermarktung von Immobilien unbedingt im Büro sitzen? Wie wäre es, wenn man einen Tiktoker hätte, der die neuen Objekte super genial auf Tiktok vermarktet. Das ist nur ein Beispiel und kann natürlich viele andere Vermarktungs-Kanäle umfassen. Was ich damit sagen will: Man sollte sich nicht nur an traditionellen Methoden orientieren, sondern lieber überlegen, wie man bestimmt Dinge mit neuen Herangehensweisen erreicht. Dann macht man die Position auch für junge Bewerber interessant.

Mehr Flexibilität auch bei den Arbeitszeiten?

Auf jeden Fall. Man könnte bestimmte Kernarbeitszeiten definieren und Mitarbeiter nicht zwingen, ins Büro zu kommen, wenn sie ihre Arbeit genauso gut im Homeoffice erledigen können. Vielleicht einmal in der Woche im Büro zusammenkommen, sich austauschen und zusammen neue Ideen entwickeln — das wäre ein attraktives Angebot.

Das bedeutet auch nicht, dass das alles zu 100 Prozent funktionieren muss. Der Arbeitgeber signalisiert aber, dass er offen für Neues ist und dann evaluiert, was funktioniert und was nicht funktioniert. Das ist für das Unternehmen ein wichtiger Lernprozess.

Viele Arbeitnehmer würden gern Teilzeit arbeiten, wenn sie das nur mit ihren Aufgaben in Einklang bringen könnten.

Meine Erfahrung ist, dass in den Unternehmen wirklich ganz viel über flexible Arbeitszeiten und Teilzeit organisierbar ist — übrigens auch in Führungsposition. Eine Studie zeigt, dass die überwältigende Mehrheit der Mitarbeiter überhaupt gar kein Problem damit hätte, wenn ihre Führungskraft in Teilzeit arbeiten würde. Das ist hochgradig attraktiv für alleinerziehende Frauen und Männer, die hochqualifiziert sind, aber nur 20 oder 30 Stunden pro Woche arbeiten können. Teilzeit für Führungskräfte sollte mehr Beachtung finden.

Gibt es ein Geheimrezept, wie man neue Mitarbeiter richtig im Unternehmen integriert?

Ich halte viel von Reverse Mentoring: Ein jüngerer Mitarbeiter gibt sein Wissen an den älteren Mitarbeiter weiter. Das ist ein gewinnbringender Austausch für beide Seiten. Das geht nicht nur in Richtung Tiktok und andere neue Social-Media-Kanäle. Das zeigt grundlegende neue Herangehensweisen auf, wie ich Probleme lösen kann oder Ziele erreichen will. Und grundsätzlich gilt natürlich: Der neue Mitarbeiter sollte Respekt vor der Leistung der älteren Mitarbeiter haben. Die alten Hasen wiederum sollten Mitarbeiter möglichst mit offenen Armen empfangen und Neues zulassen. Die Führungskraft sollte das Ganze moderieren.

Die Corona-Pandemie, der Ukraine-Krieg, die Inflation und die vielen Auswirkungen verunsichern viele Menschen. Mitarbeiter werden zunehmend sensibler und haben Zukunftsängste. Was bedeutet das für Führungskräfte?

Sie dürfen nicht vergessen, dass auch Führungskräfte sensibel und verunsichert sein können. Vielleicht haben auch sie zum Beispiel finanzielle oder familiäre Sorgen. Viele Führungskräfte nehmen allerdings nicht wahr, dass sich ihre eigene Unsicherheit auf Mitarbeiter überträgt. Und genau das ist das Problem. In Krisensituationen müssen Führungskräfte das Ruder in die Hand nehmen, für Ruhe sorgen und Chaos verhindern. Es gibt eine Methode, sich der eigenen Unsicherheit zu stellen: Man sollte überlegen, was das Schlimmste ist, was in der jeweiligen Krisensituation passieren kann. Dann stellt man oft fest, dass von den vielen Konsequenzen, die man im Sinn hat, jedoch nur eine oder zwei davon wirklich dramatisch sind. Alles andere ist oft gut zu meistern.

Genau diese Herangehensweise ist auch bei Mitarbeitern gefragt, mit ihnen über die Ängste zu sprechen und auszuloten, was im schlimmsten Falle passieren würde. Aus diesem Dialog heraus entspringen meistens Lösungen. Man kommt ins Handeln. Das ist das, was am Ende entscheidend ist.

Was würden Sie den Führungskräften gern noch mit auf dem Weg geben?

Führungskräfte sollten sich stärker darauf fokussieren, was ihr Team eigentlich als gutes Team ausmacht. Was macht uns stark? Was motiviert uns? Wie befruchten wir uns gegenseitig? Diese Fragen sollten sich Führungskräfte stellen. Man sollte als Chef auch akzeptieren, dass es nicht für alles eine Lösung gibt. Das ist auch gar nicht nötig. Es muss darum gehen, die besten Leute um sich herum zu haben und wie ein Orchester zu fungieren. Die Führungskraft ist dabei der Dirigent.

Foto: © Axel Rittershaus