Über den Tag hinaus denken — und handeln

4. November 2022


Das politische Zeichen der Gaspreisbremse ist zum jetzigen Zeitpunkt richtig und notwendig, um die Folgen der Energiekrise für die Bürgerinnen und Bürger sowie die Wirtschaft abzufedern. Trotz der angespannten Situation dürfen jetzt aber langfristige Energiespar- und Modernisierungsmaßnahmen nicht vergessen werden.

Von Jürgen Michael Schick, IVD-Präsident

Mehr Vollbremsung als kontrolliertes Bremsmanöver: Als die Bundesregierung Anfang Oktober mit dem „Doppel-Wumms“ ein gigantisches Entlastungspaket für Privatverbraucher und Industrie beschlossen hat, war offenbar „Gefahr im Verzug“: Und zwar die Gefahr, dass Haushalte bis weit in den Mittelstand hinein massenweise ihre Energierechnungen und Wärmebetriebskosten nicht mehr begleichen können würden; die Gefahr, dass in ganzen Industriezweigen das Licht ausgehen könnte — unwiederbringlich.

Daher ist der politische Eingriff zum jetzigen Zeitpunkt ein prinzipiell richtiges Zeichen an die Wirtschaft und die Menschen. Nämlich, dass der Staat keine Kosten und Mühen scheut und niemanden abrutschen oder allein lässt.

Trotzdem muss die Frage erlaubt sein, ob diese „Whatever it takes“-Haltung der Bundesregierung in diesem Winter wirklich zu dem führt, was neben der Verhinderung sozialer Verwerfungen ebenso gleichbedeutend wichtig ist: Dass Energie und vor allem Gas massiv eingespart werden. So wies die Vorsitzende der Gaspreiskommission und Wirtschaftsweise, Veronika Grimm, erst jüngst darauf hin, wie wichtig es sei, einen hohen Sparanreiz zu erhalten. Sie forderte in diesem Zusammenhang auch mehr Ehrlichkeit in der Debatte um die Deckelung der Gaspreise ein. Die Bürger sollten sich darauf einstellen, dass der Gaspreis trotz der Gaspreisbremse vor allem aufgrund der höheren Flüssiggasbeschaffungspreise weiterhin hoch bleiben wird.

Auch der IVD weist beständig darauf hin, dass eine komplette Ausschaltung des Preissignals im Markt zu Verschwendung führen könnte. Verschwendungen, die wir uns als Land und Wirtschaftsstandort nicht leisten können. Nicht nur die Höhe der Preise, sondern Versorgungssicherheit muss also Thema bleiben. Es müssen viel mehr Einsparmaßnahmen
entwickelt werden, damit neben der Abfederung von Preisen überhaupt genügend Gas in diesem Winter vorhanden sein wird. Nach Expertenmeinung sind die Haushalte dringend angehalten, mindestens 20 Prozent gegenüber dem Vorjahr zu sparen, sonst kann es zu realen Engpässen kommen. Leider liegt der Verbrauch aktuell über den Werten der Vorjahre. Und so warnt auch die Bundesnetzagentur, dass die Lage sehr ernst werden kann, wenn wir unseren Gasverbrauch nicht deutlich reduzieren. Der IVD spricht sich in diesem Zusammenhang für ein preisgedeckeltes Basiskontingent in Höhe von 80 Prozent des Vorjahres-Durchschnittsverbrauchs aus — für die Menge, die darüber hinaus verbraucht wird, wird der unregulierte Marktpreis fällig.

Genauso wichtig ist es aus unserer Sicht, langfristige und sinnvolle Investitionen trotz der angespannten Lage weiter im Blick zu halten und über den Tag hinaus zu denken. Dazu gehört beispielsweise, die Rolle von Gebäuden als dezentrale Energieproduzenten deutlich zu stärken. Allein das Potenzial der Dachflächen von Mehrfamilien- und Einfamilienhäusern ist gigantisch. Würde man sämtliche geeignete Dachflächen von Ein- und Zweifamilienhäusern, Garagen und Carports für Photovoltaik nutzen, könnte man bis zu 120 TWh Strom jährlich produzieren. Hinzu kommen Mehrfamilienhäuser, Büro- und Industriegebäude — bisher wird erst rund ein Zehntel der Dachflächen genutzt.
Auch das Thema Mieterstrom muss noch viel stärker adressiert werden — auch, um die Privathaushalte deutlich zu entlasten. Mit den in diesem Jahr beschlossenen Gesetzesnovellen wird Mieterstrom zwar insgesamt bessergestellt — mit dem EEG 2023 erhalten auch Anlagen mit mehr als 100 Kilowatt Leistung den Mieterstromzuschlag —, Experten sehen indes noch Luft nach oben, um das Modell wirklich attraktiv zu machen.

Übrigens: Nach wie vor gilt, dass auch Mieter und Hauseigentümer ihren Beitrag dazu leisten sollten, Energie und Kosten zu sparen. Dabei können durchaus auch regulatorische Vorgaben Orientierung geben — allerdings unter einer Voraussetzung: Sie dürfen nicht zu mehr Bürokratieaufwand führen. Nicht wie bei der Kurzfristenergieversorgungssicherungsmaßnahmenverordnung, die neue Informationspflichten für Vermieter von Wohnungen vorsieht, die mit Gas oder Fernwärme beheizt werden. Dies belastet die Vermieter und Verwalter enorm, ohne dass dem ein erkennbarer Nutzen entgegensteht.

Die Politik muss sich klarmachen: Bürokratie ist immer ein schlechter Berater, wenn es um Einsparungen, Solidarität und Eigenverantwortung geht.

 

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