„A-Lage“ heißt nicht mehr unbedingt „Top-Standort“

30. Oktober 2020


Es ist lange her, dass eine EXPO REAL mit so vielen offenen Fragen verbunden war wie im Corona-Jahr 2020. Die Immobilienbranche sieht sich vielen Herausforderungen gegenüber und die Pandemie wirkt als Katalysator des Wandels – selbst bei der alten Gewissheit von „Lage, Lage, Lage“

Von Stefan Klingsöhr

Ob Digitalisierung, Klimawandel oder die Evolution der Bürowelten — unsere Gesellschaft erlebt aktuell den größten Veränderungsdruck seit Jahrzehnten. Ganze Lebensstile und Geschäftsmodelle stehen auf dem Prüfstand, während sich gleichzeitig neue Arbeits- und Verhaltensweisen etablieren. Damit geht einher, dass sich die Anforderungen an Immobilien zum Teil stark verändern.

Die Nutzerwünsche an Gewerbeimmobilien etwa werden immer vielschichtiger und komplexer. Wo früher bei der Vermarktung gerade im Bürobereich oft die reine Zentrumsnähe den Wert eines Standorts bestimmte, erfüllen zukunftsfähige Immobilien heutzutage ein ganzes Bündel an Kriterien — von der Vielseitigkeit der Raumkonzepte bis zu energiesparender Gebäudetechnik, von der Zahl der (potenziellen) E-Ladesäulen bis zur Vernetzung mit der Umgebung.

Beim Standort entscheidet das Gesamtpaket

Dabei läge der größte Fehler in einer eindimensionalen Betrachtung der Nachfrage. Statt die engen Märkte der begehrtesten A-Lagen bevorzugen viele arrivierte Unternehmen nicht umsonst immer häufiger den Schritt in neue Trendlagen am Rand des urbanen Kerns — dorthin, wo in unmittelbarer Nähe zu etablierten Wohnquartieren die Grundstücke noch günstiger und die Mieten dementsprechend preiswerter sind. Diese Entwicklung ist gerade vor dem Hintergrund der gestiegenen Preise in den vergangenen Jahren keine Überraschung, denn ein gutes Preis-Leistungs-Verhältnis können viele vermeintliche Top-Lagen heutzutage nicht mehr bieten.

Sowohl für junge Start-ups als auch für internationale Player kommt es vor allem darauf an, ein möglichst perfektes Gesamtpaket zu finden. Denn in Zeiten des ‚War for Talents‘, des Rufes nach Nachhaltigkeit und der veränderten Anforderungen der digitalen Arbeitswelt beeinflusst die Wahl eines Standorts wohl wie nie zuvor die Erfolgsaussichten eines Unternehmens. Wem es gelingt, Mitarbeitern und Kunden das richtige Verhältnis aus Erreichbarkeit, Funktionalität und Flexibilität zu bieten, kann der Konkurrenz langfristig den entscheidenden Schritt voraus sein.

Die entscheidende Frage: Was braucht der Nutzer?

Die EXPO REAL — gerade weil auch sie in diesem Jahr keine Normalität herstellen kann — bietet der gesamten Branche eine Gelegenheit der kritischen Selbstreflexion. Auch in der Frage der Lage ist das dringend geboten. Denn angesichts der schnellen Veränderungen in der Gegenwart werden sich die Büromärkte in den kommenden Jahren weiter wandeln. Der verlässlichste Garant für langfristigen Erfolg ist in einer solchen Situation ein hoher Qualitätsanspruch an die eigene Arbeit.

Bei der Projektentwicklung im Gewerbebereich ergibt sich daraus zwangsläufig ein starker Fokus auf die Ansprüche und Erfordernisse des Nutzers. Der wichtigste Grundsatz ist der Mieterausbau: Weil nachträgliche Anpassungen fast zwangsläufig die Kosten und den Aufwand für die Beteiligten in die Höhe treiben, kann eine Gewerbeimmobilie nur dann wirklich für den Mieter oder Eigennutzer angepasst werden, wenn sie auf Grundlage seiner spezifischen Wünsche fertiggestellt wird.

Erreichbarkeit schlägt Lage

Ein nicht zu unterschätzender Faktor für die Erfolgsaussichten eines neuen Standorts sind die Mitarbeiter eines Unternehmens — sowohl die aktuellen als auch die zukünftigen. Erstens spielt eine gute technische Ausstattung, etwa ein Breitbandanschluss, der verzögerungsfreies Arbeiten erlaubt, eine große Rolle für die Effizienz der internen Abläufe. Und zweitens sind der Standort und die Ausstattung des Arbeitsplatzes ein entscheidendes Kriterium für die Zufriedenheit der Belegschaft.

Immer entscheidender in dieser Hinsicht wird im Zuge der Energiewende die Erreichbarkeit mit öffentlichen Verkehrsmitteln werden. Wie kaum ein anderer Punkt spricht diese unvermeidliche Entwicklung für Standorte außerhalb der absoluten Zentrumslagen. Denn gerade in den wachsenden Ballungsräumen und Metropolen wohnen immer mehr Menschen außerhalb des Zentrums — das größte Wachstum erfahren in vielen Fällen schon heute die Umlandgemeinden. Infolgedessen kann eine Lage im erweiterten Innenstadtbereich von Berlin oder Hamburg einen echten Komfortgewinn bieten, bringt sie dem einzelnen Mitarbeiter doch oft eine tägliche Zeitersparnis zwischen 30 Minuten und einer Stunde.

Einen attraktiven Nutzungsmix findet man nicht in Prime-Lagen

Klar ist natürlich auch: Außerhalb der hochverdichteten Innenstadtbereiche bieten sich städtebaulich sowie architektonisch oft die besseren Voraussetzungen für eine gelungene Erweiterung des Flächenangebots. Ein Büro dient heutzutage der Identitätsstiftung in einem Unternehmen — umso wichtiger ist daher, dass sich die Ziele und Philosophie auch in der Immobilie selbst ausdrücken. Doch in brancheninternen Diskussionen gerät oft außer Acht, dass sich eine A-Lage und eine hohe Bauqualität meist nur zu Höchstpreisen realisieren lassen.

Ob im Frankfurter Osten, in Berlin-Neukölln oder dem Münchener Werksviertel — die vielversprechendsten Entwicklungen ergeben sich auch aufgrund der wirtschaftlichen Abwägung häufig nicht unbedingt an den prestigeträchtigsten Orten, sondern dort, wo sich Digital Natives und junge Kreative am wohlsten fühlen. Zu den wichtigsten Faktoren gehört dabei zweifellos die Einbindung in die umliegenden Quartiere sowie ein enges Mit- und Nebeneinander unterschiedlicher Nutzungsarten und Lebensrealitäten — genau jene Mischung also, die in vielen Top-Innenstadtlagen schlicht nicht mehr zu finden ist.