Raus aus dem Romantiktal!

10. Juni 2022


Der Ex-Ministerpräsident von Baden-Württemberg und ehemalige EU-Kommissar Günther H. Oettinger tritt auf dem Deutschen Immobilientag 2022 auf. In seinem Vortrag „Standpunkt: Deutschland – Raus aus dem Romantiktal“ nimmt der Politiker kein Blatt vor den Mund und deckt schonungslos Defizite in Deutschland und Europa in Sachen Weltpolitik auf. Die AIZ sprach mit Günther H. Oettinger.

Interview von Heiko Senebald

AIZ: Herr Oettinger, spätestens seit Beginn des Ukraine-Kriegs hat Ihr Vortrags-Titel eine besondere Bedeutung bekommen. Wie schätzen Sie die derzeitige Lage ein?

Günther H. Oettinger: Der Krieg war ein Weckruf und wird hoffentlich zu weitreichenden Maßnahmen und Reformen führen. Deutschland hat über Jahre zu wenig gegen Bedrohungen von außen und deren Abwehr zur Sicherheit und Verteidigung getan. Zwei Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts sollen Mitgliedsstaaten für den Verteidigungsetat aufwenden. Das hat die Nato so beschlossen. Dem hat auch Deutschland zugestimmt. Jahrelang hat Deutschland aber nur 1,5 Prozent aufgebracht. Die Zahlen lügen nicht. Andere Länder wie UK, Frankreich, aber auch Lettland, Litauen oder Estland haben dagegen ihre Beiträge geleistet. Das gehört zur Wahrheit dazu.

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Eule

 

Es ist eine Debatte um die Rolle Deutschlands im Ukraine-Krieg entbrannt, beispielsweise auch, was die Lieferung schwerer Waffen betrifft. Agiert die Bundesregierung zu defensiv?

Die Lieferung schwerer Waffen an dieUkraine bedarf einer gründlichen Prüfung in jedem Einzelfall. Dabei sind bei der Bundesregierung erhebliche Mängel bei der Kommunikation festzustellen. Die Verfahren sind zögerlich und intransparent. Die Argumente oftmals widersprüchlich. Die Ukraine hat, um sich gerade im Süden und Osten ihres Landes gegen die Invasion der Russen zu verteidigen, die Unterstützung ihrer Partner, damit auch Deutschlands, verdient.

Besteht die Gefahr, dass der Krieg nach Deutschland kommen könnte?

Wir haben das Glück, dass wir von Freunden umgeben sind. Ich bin mir sicher, dass die Nato, die ja von Emmanuel Macron vor zwei Jahren noch für Tod erklärt wurde, heute einiger und ihrer Verantwortung mehr denn je bewusst ist. Sollte es einen Angriff auf einen Nato-Mitgliedstaat geben, dann würde der Bündnis-Fall eintreten. Das würde eine geballte Reaktion der gesamten Nato herbeiführen.

Wie steht es um Deutschlands Weltpolitikfähigkeit?

Wir haben uns jahrzehntelang wirtschaftlich stark entwickelt, wir waren ein Riese im Außenhandel. Aber umgekehrt haben wir keine Verantwortung in der Außen- und Sicherheitspolitik übernommen. Es gab zwar kluge Ansätze und Reden des damaligen Bundespräsidenten Joachim Gauck zum Beispiel auf der Münchner Sicherheitskonferenz auch von der damaligen Bundeskanzlerin Angela Merkel, als Donald Trump zum US-Präsidenten gewählt wurde. Der Begriff Weltpolitikfähigkeit, der von Jean-Claude Juncker stammt, ist aber bisher eine hehre Vision geblieben. Wir sind dieser Vision in keiner Form nähergekommen.

Wie kann denn Deutschland dieser Vision näherkommen?

Viele sind zu lange der Illusion gefolgt, dass Wandel durch Handel zu erreichen ist, dass man je mehr man sich wirtschaftlich näherkommt, auch mehr Demokratie fördert. Oder sagen wir so: Marktwirtschaft wird Eigentum wird Freiheit wird Toleranz wird starker Rechtstaat — das ist ein Irrtum. Bei China sieht man deutlich, dass diese vermeintliche Logik nicht zutrifft. Wir müssen von dieser Illusion Abstand nehmen. Wir müssen uns fragen: Ist uns der Umsatz wichtiger oder geht es auch um Werte und um Politik? Ich glaube, es ist das Primat der Politik, dass das Ziel von Werten nicht dem Ziel von Umsatzsteigerungen untergeordnet werden darf.

Blicken wir noch einmal auf den Ukraine-Krieg. Inwieweit wird der Krieg Auswirkungen auf die ambitionierten Klimaschutz-Ziele haben?

Ich glaube, dass der Krieg die Frage eines klugen Klimaschutzes, eines klügeren Green Deal, befördern wird. Stichwort grüner Wasserstoff. Den erzeugen wir nicht zu allererst in Deutschland, da sind meines Erachtens nach Partnerschaften mit dem Osten und Norden Afrikas notwendig. Ich denke auch an die Energieeffizienz von älteren Bestandsgebäuden. Hier massive Sanierungspflichten zu erlassen, macht keinen Sinn, wenn Kosten und Nutzen nicht übereinstimmen. Klimaschutz ist notwendig, ja. Aber so wie wir vorgehen, ist das nicht der richtige Weg. Zu glauben, dass es Deutschland am besten weiß, wie erfolgreicher Klimaschutz geht, dass Europa es auch besser weiß als der Rest der Welt — das bringt meines Erachtens nach keine klugen Lösungen hervor. Wir dürfen nicht vergessen: Deutschland ist für knapp zwei Prozent aller Treibhausgase verantwortlich, die EU mit ihren 27 Mitgliedsstaaten acht Prozent.

Die Immobilienwirtschaft stellt ebenso fest, dass es bei den Klimaschutzzielen zwischen Anspruch und Wirklichkeit eine große Lücke gibt.

Ja, wir haben beim Thema Klimaschutz die Realität an der Garderobe abgegeben. Ich stehe den Klimaplänen sehr kritisch gegenüber. Leider ist auch der Dialog zwischen Wirtschaft, in diesem Fall Immobilienwirtschaft, Investoren und Politik nicht mehr wirklich vertrauensvoll und umfassend. Die Kosten-Nutzen-Relation stimmt in vielen Bereichen nicht. Das deutete sich schon in der Schlussphase der Regierung Merkel an, die neue Ampel-Regierung legt mit ihrer Koalitionsvereinbarung noch einen darauf. Man kann nur hoffen, dass auf allen Ebenen, vom Bund bis zu den Ländern, die Politik zügig mit Wirtschaft, Investoren und Immobilieneigentümern die Klimaziele bespricht und dann unter dem Gesichtspunkt einer Kosteneffizienz zu anderen vernünftigen Lösungen kommt, als es die jetzt geplanten Klimaschutzvorgaben sind.

Im Mittelpunkt der öffentlichen Debatte steht derzeit auch die Zinspolitik der Europäischen Zentralbank (EZB). Lange hatte sich die EZB unbeeindruckt von der steigenden Inflation im Euro-Raum gezeigt. Jetzt ist die Zinswende in Sicht. In Folge steigen die Zinsen für Baufinanzierungen an. Insbesondere beim Immobilienkauf müssen Kreditnehmer dann tiefer in die Tasche greifen. Wie schätzen Sie die Entwicklung ein?

Die Politik vom ehemaligen EZB-Präsidenten Mario Draghi unter dem Motto „Whatever it takes“ war zum damaligen Zeitpunkt richtig. Aber das die EZB noch immer den Markt mit Geld flutet, noch immer mit großen Umfang Staatsanleihen ankauft, und noch immer eine Niedrigzinspolitik besteht, ist falsch. Die Kurskorrekturen werden kommen, aber sie kommen zu zaghaft, sie kommen zu spät.

Im Grunde genommen ist die EZB eine Gefangene ihrer eigenen Politik. Draghi hat seine Maßnahmen mit der Aufforderung an die Mitgliedstaaten der Eurozone verbunden, an ihrer Wettbewerbsfähigkeit zu arbeiten, ihren Haushalt in Ordnung zu bringen und ihren Arbeitsmarkt weiterzuentwickeln. Und genau dies ist nicht geschehen. Länder wie Italien, aber auch Frankreich sind auf marktgerechte Zinsen nicht vorbereitet.

Die Inflation in der Eurozone ist im März auf ein Rekordhoch von 7,5 Prozent geklettert. Das ist eine Entwicklung gegen die kleinen Leute und das wird eine Preisspirale bei den nächsten Tarifverhandlungen in Gang setzen. Ich kann nur hoffen, dass die EZB jetzt endlich reagiert. Es ist fünf nach zwölf.

Ich möchte Sparern oder Immobilienerwerbern keine Vorgaben machen, aber ich halte ein vor allem selbstgenutztes Wohneigentum, in guter Lage, mit gutem, aber nicht überteuertem Standard, mit mindestens 30 Prozent Eigenkapital, mit einem langfristigen Darlehen und bezahlbaren Tins- und Tilgungsraten für eine gute Kapitalanlage und eine gute Lebensversicherung. Die Immobilie ist ein guter Inflationsschutz.

In Ihrem Vortrag auf dem Deutschen Immobilientag ordnen Sie unter anderem die Themen Ukraine-Krieg, Weltwirtschaft, Klimaschutz und Zinspolitik ein. Welche Botschaften ergeben sich daraus?

Deutschland und Europa müssen weltpolitikfähig werden. Wir müssen erwachsen werden. Wir müssen unsere äußere Sicherheit, aber auch die innere Sicherheit, Stichwort Cybersicherheit, selbst in die Hand nehmen. Wenn die Amerikaner dabei mithelfen, herzlich gerne, aber es muss auch ohne Amerika gehen. Und wir müssen unsere Wettbewerbsfähigkeit stärken.

In diesen Wochen wird viel über Sanktionen nachgedacht und gehandelt. Sanktionen machen dort Sinn, wo wir etwas haben, was andere nicht haben, aber brauchen. Und das geht nur durch Forschung, Entwicklung, durch Hightech und durch Innovation. Hier müssen wir besser werden. Im digitalen Zeitalter sind Deutschland und Europa nicht mehr gut genug. Wir sind im Kampf der Systeme gegenüber Amerika und China seit Jahren zurückgefallen. Es geht um eine echte langfristig angelegte Kraftanstrengung von Grundlagenforschung, von Ausrüstung unserer Bundeswehr bis hin zu einem klugen Green Deal. Wenn die Chinesen fast jeden Tag ein neues Kohlekraftwerk einweihen und wir unsere abschalten, dann helfen wir damit nicht der Umwelt. Stattdessen erhöhen sich unsere Energiekosten und es erhöht sich unsere Importabhängigkeit.

Foto: © Günther Oettinger